Frau Schmidts Traum vom Schnorcheln

Wer eine seltene Erkrankung hat, trägt oft eine besonders schwere Last. Das Zentrum für Seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Heidelberg verbindet 18 Fachzentren und bietet Betroffenen Hoffnung und Hilfe. Maren Schmidt* ist eine von ihnen. Die 26-Jährige hat das Loeys-Dietz-Syndrom, ein seltener Gendefekt mit einem hohen Risiko für lebensbedrohliche Aneurysmen der Hauptschlagader. Schon mehrfach hat das Team des Zentrums ihr das Leben gerettet. *Name geändert

4 Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer von rund
8000
seltenen Erkrankungen.

Als Maren Schmidts Nieren ausfallen, rauschen jede Nacht Flüsse durch ihre Träume. „Ich konnte nur noch an Wasser denken“, erzählt die 26-Jährige. In ihren Träumen hält sie die Füße ins kühle Nass oder schwimmt im Meer. In der Realität muss sie zur Dialyse und darf nicht viel trinken. Durst ist ihr ständiger Begleiter. Zur Ablenkung schaut sie sich Dokumentationen rund ums Tauchen an. So entsteht ihr größter Wunsch: einmal mit Meeresschildkröten zu schwimmen. Doch derzeit darf sie nicht verreisen, verbringt viele Monate im Krankenhaus. Denn Maren Schmidt hat das äußerst seltene Loeys-Dietz-Syndrom.

Seit ihrer Kindheit ist Maren Schmidt regelmäßig bei Professor Dittmar Böckler und seinem Team in Behandlung.

Unklare Diagnose im Kindesalter

Ihre Krankheitsgeschichte beginnt im Alter von 13 Jahren. Damals wird sie wegen starker Bauchschmerzen ins Universitätsklinikum Heidelberg eingeliefert. Man vermutet zunächst eine gewöhnliche Blinddarmentzündung. Obwohl bei Maren Schmidt schon im frühen Kindesalter die angeborenen seltene Gefäßerkrankung Klippel-Trénaunay-Weber-Syndrom vermutet wurde, war sie bis auf einige Krampfadern und eine Umfangsvermehrung im rechten Bein bis dato kerngesund. „Bei den Untersuchungen kam heraus, dass ich keinen entzündeten Blinddarm, sondern ein sogenanntes Aortenaneurysma hatte“, erinnert sie sich. Damit ist eine Ausdehnung der Hauptschlagader im Bauchraum gemeint. Ein Aortenaneurysma ist in diesem Alter sehr ungewöhnlich.

Damals ist noch keine operative Behandlung nötig, doch als Maren Schmidt 15 ist, muss sie in der Gefäßchirurgie operiert werden. Die Aorta droht bei einem Durchmesser von mehr als fünf Zentimetern – normal in diesem Lebensalter sind 1,5 Zentimeter – zu reißen. Das wäre lebensgefährlich.

„Wir haben das erkrankte Gefäßsegment durch eine Kunststoff-Prothese ersetzt“, erzählt ihr behandelnder Arzt Professor Dr. Dittmar Böckler, Ärztlicher Direktor der Klinik für Gefäßchirurgie und Endovaskuläre Chirurgie am Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD). „Danach hatte ich erst einmal zehn Jahre Ruhe“, ergänzt seine Patientin.

Professor Dr. Philipp Erhart

Sprecher des Fachzentrums und Oberarzt der Klinik für Gefäßchirurgie und Endovaskuläre Chirurgie

Zweimal verschlechtert sich Maren Schmidts Zustand so dramatisch, dass sie mit dem Rettungshubschrauber abgeholt und nach Heidelberg geflogen wird.

> 10000
Erkrankte werden jährlich am Zentrum für Seltene Erkrankungen behandelt.

Operationen in Serie

Nach der Operation kommt sie alle ein bis zwei Jahre zur Kontrolle nach Heidelberg. Bei einem dieser Besuch in Heidelberg zeigt sich, dass auch ein weiterer Teil der Aorta ersetzt werden muss. Im Herbst 2023 wird die junge Frau erfolgreich operiert. Doch kaum ist sie zu Hause, jagt ein Unglück das nächste: Ihre Nieren und die Leber versagen, und ihr Herz schlägt nur noch sehr schwach. „Ich wurde mit dem Hubschrauber abgeholt und nach Heidelberg geflogen“, erinnert sie sich. In der Kardiologie (Leitung: Prof. Dr. Norbert Frey) wird sie erfolgreich behandelt und später nach Hause entlassen. Sie muss allerdings ab jetzt zur Dialyse.

Eine Woche später erleidet sie eine sogenannte Aortendissektion – dabei reißt die innerste Wandschicht der Hauptschlagader. Maren Schmidts Zustand ist lebensbedrohlich, wieder fliegt der Helikopter sie nach Heidelberg, wo sie diesmal vom herzchirurgischen Team (Leitung: Prof. Dr. Matthias Karck) notoperiert wird. Seitdem verlässt sie das Krankenhaus für mehrere Monate nicht. Alle paar Tage muss sie für geplante Folgeoperationen in den OP, mit der Wundheilung gibt es Probleme. Ihre Nieren arbeiten zum Glück wieder besser; die Dialysebehandlungen gehören der Vergangenheit an.

Stark vernetzt

Um eine umfassende und effektive Therapie sicherzustellen, arbeiten Expertinnen und Experten verschiedener medizinischer Disziplinen eng zusammen. Nur so kann es gelingen, die komplexen Symptome des Loeys-Dietz-Syndroms in Schach zu halten. Denn eine Heilung gibt es bislang nicht.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Erst seit einigen Wochen weiß Maren Schmidt, dass sie nicht am Klippel-Trénaunay-Weber-Syndrom leidet, sondern das Loeys-Dietz-Syndrom hat – dank einer genetischen Untersuchung, die das Fachzentrum für Seltene Gefäßerkrankungen unter Leitung von Professor Dr. Philipp Erhart in Zusammenarbeit mit dem Institut für Humangenetik (Leitung: Professor Dr. Christian Schaaf) durchführt. Das Loeys-Dietz-Syndrom ist eine sehr seltene genetische Erkrankung: „Eine von einer Million Personen ist betroffen“, sagt Professor Erhart. Am Zentrum für Seltene Gefäßerkrankungen hat er dieses Syndrom erst bei einer weiteren Patientin diagnostiziert. Es betrifft das Bindegewebe und kann Probleme mit den Blutgefäßen, dem Herz-Kreislauf-System und dem Skelett verursachen.

Lebensbedrohliche Komplikationen sind Gefäßeinrisse, denn durch den Gendefekt sind die Wände der Arterien geschwächt. „Bei Frau Schmidt sind auch andere Organsysteme erkrankt, so dass Kardiologen, Nephrologen, Gynäkologen, Radiologen und Herzchirurgen an der Behandlung beteiligt waren“, erklärt Professor Erhart. In regelmäßigen interdisziplinären Fallkonferenzen besprechen die Fachleute das weitere Vorgehen. Da die zu behandelnden Arterien sehr vulnerabel sind, müssen die operativen Eingriffe wohlüberlegt sein und intensiv vorbereitet werden, sagt Erhart. So wird sichergestellt, dass die Eingriffe effizient und komplikationslos verlaufen.

Da beim Loeys-Dietz-Syndrom mehrere Organe erkrankt sind, bedarf es nicht nur während der Operation, sondern auch davor und danach einer interdisziplinären Zusammenarbeit.

Eine Erkrankung gilt als selten, wenn an dieser höchstens
5 von 10.000
Menschen leiden.
Excellent together: Ob Universitätsmedizin oder Klassik – ein interdisziplinäres OP-Team harmoniert wie ein Orchester aus brillanten Musikern.

Im Video stellt sich die Klinik für Gefäßchirurgie und Endovaskuläre Chirurgie zusammen mit Pflege und ihren Partnern aus Chirurgie und Anästhesiologie am UKHD vor.

Aktuell stößt die Medizin bei der Behandlung des Loeys-Dietz-Syndroms an ihre Grenzen, bedauern die Mediziner: „Eine kausale Therapie dieses Gendefekts existiert leider nicht. Man kann die Erkrankung nur chirurgisch behandeln und durch lebenslange Nachsorgen rechtzeitig nach neuen Gefäßveränderungen Ausschau halten.“ Im Bereich der Brustschlagader erhält Maren Schmidt in Kürze noch eine sogenannte Endoprothese, um das Fortschreiten der Erweiterung im letztverbliebenen unbehandelten Abschnitt der Brustschlagader zu stoppen und einen Riss bzw. Ruptur an dieser Stelle zu verhindern. „Das ist ein minimalinvasiver Eingriff, ähnlich einer Herzkatheteruntersuchung, erklären die Gefäßchirurgen Böckler und Erhart.

Sie sei eigentlich ein positiver Mensch, sagt Maren Schmidt. Doch die vielen Monate im Krankenhaus gehen auch an ihr nicht spurlos vorbei: „Das macht etwas mit einem.“ Durch die vielen Operationen ist sie oft müde. Um endlich mal wieder ein Buch zu lesen oder einen ganzen Film zu schauen, dafür reicht ihre Konzentration noch nicht aus. Die langen Krankenhaustage vertreibt sie sich mit Origami, Instagram und Dokumentationen. Kraft geben ihr die Eltern und die beiden Brüder, die jeden Tag zu Besuch kommen: „Wenn ich meine Familie nicht hätte, wäre ich nicht so optimistisch.“

Das Zentrum für Seltene Erkrankungen vereinigt die Zentren für …

  • … Amyloidose
  • … Seltene Blutkrankheiten
  • … Echinokokkose und seltene Tropenerkrankungen
  • … angeborene Endokrinopathien
  • … seltene Herzerkrankungen
  • … seltene kranio-orofaziale Erkrankungen
  • … seltene Lungenerkrankungen
  • … Mukoviszidose
  • … seltene Nierenerkrankungen
  • … seltene orthopädische Erkrankungen
  • … seltene entzündlich-rheumatische Erkrankungen
  • … chronischen Singultus
  • … angeborene Stoffwechselerkrankungen
  • … syndromale Entwicklungsstörungen
  • … seltene Tumorerkrankungen
  • … seltene neurologische Erkrankungen
  • … seltene Gefäßerkrankungen
  • … seltene angeborene Fehlbildungen des Verdauungstraktes
Das Team rund um Professor Dittmar Böckler ersetzt das erkrankte Gefäßsegment durch eine Prothese.

Mit Schildkröten schnorcheln

Das Ergebnis des Bluttests habe sie überrascht und auch ein wenig erschreckt, sagt Maren Schmidt. „Ich wusste ja nicht, welche neuen Einschränkungen jetzt kommen.“ Weiterhin muss die junge Frau darauf achten, dass sie nicht zu viel Druck auf ihre Gefäße ausübt. Ausdauersportarten wie Schwimmen, Wandern und Fahrradfahren sind beim Loeys-Dietz-Syndrom in Absprache mit den behandelnden Kardiologen empfehlenswert, aber Kontaktsportarten wie z.B. Fuß- oder Handball soll sie meiden; auch tief tauchen darf sie wegen des Unterwasserdrucks nicht.

Eines freut den Wasserfan sehr: „Schnorcheln ist erlaubt.“ Wenn sie das Krankenhaus wieder verlassen darf und auch die Reha hinter sich hat, möchte sich Maren Schmidt ihren großen Traum erfüllen und mit Schildkröten im Mittelmeer schwimmen. Am liebsten in Griechenland, der alten Heimat ihrer Mutter. Dass dieser Traum wahr wird, daran arbeiten sie und das Team des Zentrums am Universitätsklinikum Heidelberg jeden Tag.

„Eine Diagnose ist auch für die Psyche wichtig“

Im Gespräch mit Dr. Pamela Okun, Koordinatorin des Zentrums für Seltene Erkrankungen

Was sind die größten Herausforderungen bei der Diagnose und Behandlung von seltenen Erkrankungen, und wie überwindet Ihr Zentrum diese?

Dr. Pamela Okun: Vielen Ärzten sind seltene Erkrankungen nicht bekannt, eben weil sie so selten vorkommen. Deshalb dauert es häufig sehr lange, bis die Erkrankten eine Diagnose bekommen. Das verzögert die Behandlung. Eine Diagnose ist aber sehr wichtig – auch für die Psyche. In den meisten Fällen gibt es keine Therapien gegen die Krankheit selbst, sondern nur symptomorientierte Behandlungen. Unsere Stärke sind die kurzen Wege und die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Manche Erkrankten brauchen die Unterstützung mehrerer Fachdisziplinen oder auch Ernährungsberatung, Physiotherapie oder psychologische Hilfe. Das haben wir alles vor Ort.

Bekommen alle Erkrankten am Zentrum eine Diagnose?

Dr. Pamela Okun: Durchschnittlich kann bei 40 Prozent der Patienten mit vormals unklarer Diagnose eine definitive Diagnose gestellt werden. Bei 60 Prozent der Erkrankten ist das leider nicht möglich.

Welche Rolle spielen Forschung und die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen?

Dr. Pamela Okun: Die Forschung spielt eine riesengroße Rolle, vor allem wenn es darum geht, die Entstehung der Erkrankungen aufzuklären. Für klinische Studien arbeiten wir mit anderen Standorten zusammen. Wir sind Mitglied in sechs nationalen und internationalen Referenznetzwerken für seltene Erkrankungen. Und wir bieten regelmäßig Fortbildungen an, um sie für seltene Erkrankungen zu sensibilisieren.

Welche Besonderheiten gibt es bei Kindern zu beachten?

Dr. Pamela Okun: In 80 Prozent der Fälle manifestieren sich die seltenen Erkrankungen bereits im Kindesalter. Wenn junge Erkrankte erwachsen werden, wechseln sie von der Kinder- zur Erwachsenenmedizin. Davor müssen sie von den behandelnden Kinderärzten geschult werden, damit sie Experten ihrer Erkrankung werden. Dieser Prozess wird Transition genannt. In der Kinderklinik spielt dabei die Transitionsbeauftragte eine wichtige Rolle. Sie kennt sich mit den sozialrechtlichen Aspekten aus und unterstützt beim Wechsel in die Erwachsenenmedizin. Während einer speziellen Sprechstunde lernen Erkrankte die neue Ansprechperson kennen. In einigen Fällen erfolgt die Behandlung im Erwachsenenalter in fachärztlichen Praxen. In dieser Übergangsphase ist es wichtig, dass Jugendliche sich wohl fühlen und Vertrauen entwickeln können.

Was wünschen Sie sich für das Zentrum?

Dr. Pamela Okun: Ich würde mich sehr über weitere nationale und internationale Vernetzungen im Forschungsbereich freuen – gerade im Hinblick darauf, dass es leider immer noch zu viele unklare Diagnosen gibt. Nur durch eine nachhaltige Finanzierung des Zentrums für Seltene Erkrankungen können Betroffene optimal versorgt werden.

„Campus-Report“: Hirschsprungkrankheit – eine Familiengeschichte zur seltenen Erkrankung

Im Podcast geht es um den acht Jahre alten Fabian, der an Morbus Hirschsprung leidet, einer Krankheit, die zu Darmverengungen und Verstopfungen führt. Stefanie Seltmann spricht mit Dr. Philipp Romero, Sprecher des Zentrums für seltene angeborene Fehlbildungen des Verdauungstrakts am Zentrum für Seltene Erkrankungen, Fabian und seinen Eltern über Diagnose, Therapie und den Alltag mit dieser Erkrankung.

Podcast, 02/2024

Transkript

Hirschsprungkrankheit – eine Familiengeschichte zur seltenen Erkrankung

Stefanie Seltmann: Willkommen zu dieser Ausgabe des Campus Reports. Mein Name ist Stefanie Seltmann und ich darf Ihnen heute eine der über 8.000 verschiedenen seltenen Erkrankungen vorstellen. Nur maximal 5 von 10.000 Menschen sind betroffen von einer bestimmten seltenen Erkrankung. Weil es aber insgesamt so viele verschiedene davon gibt, sind es dann eben doch rund 4.000.000 Menschen, die mit einer seltenen Erkrankung in Deutschland leben. Einer davon ist Fabian. Er leidet an der Hirschsprungkrankheit, die am Universitätsklinikum Heidelberg untersucht, behandelt und weiter erforscht wird.

Fabian: Also ich bin Fabian und ich bin 8 Jahre alt.

Stefanie Seltmann: Fabian ist Patient in der Kinderklinik des Universitätsklinikums Heidelberg. Vor ein paar Tagen wurde er operiert, er zieht einen Infusionsständer hinter sich her, hat einen zentral-venösen Zugang am Hals und sitzt im Schlafanzug bei seiner Mutter auf dem Schoß.

Fabian: Also mein Darm hat nicht richtig funktioniert, der Stuhlgang ging schwer raus und deswegen bin ich jetzt hier. Mir wurde als kleines Kind so 15 Zentimeter Darm weggeschnitten. Mein Darm ist krank. Und dann haben die mir hier noch nochmal so um die 25 Zentimeter weggeschnitten. Und jetzt ist es viel besser, jetzt kommt der Stuhlgang auch besser raus.

Stefanie Seltmann: Fabian leidet an der seltenen Hirschsprungkrankheit. Nur eines von 5.000 Kindern wird damit geboren. Privatdozent Doktor Philipp Romero ist Kinderchirurg und Spezialist für die Hirschsprungkrankheit. Er hat Fabian operiert.

Philipp Romero: Die Hirschsprungkrankheit ist eine angeborene Erkrankung im Kindesalter. Sie geht einher mit dem Fehlen von Nervenfasern im Darmbereich, die für die Koordination der Darmbewegung zuständig sind – immer aufsteigend von unten nach oben. Und so, dass die Kinder, die betroffen sind von dieser Erkrankung, darunter leiden, dass der Darm einen Funktionsverlust hat im Sinne von fehlender Darmperistaltik, das heißt fehlender Bewegung des Darmes und darüber hinaus auch einer Engstellung dieses Darmsegmentes, der eben betroffen ist von den fehlenden Nervenfasern. Das nennen wir Aganglionose. Das heißt, hier findet ein mechanischer Stopp statt, der Stuhlgang kann nicht über diese Engstelle weitertransportiert werden und staut sich zurück. Der Darm, der gesund vorne dran wirkt, versucht diese Engstelle zu überwinden und leiert aber aus, weil er das eben nicht schafft. So ist ein Synonym entstanden, das Megacolon congenitum, das angeborenen Megacolon.

Stefanie Seltmann: Die Krankheit fällt meist schon sehr früh auf. Das war auch bei Fabian so, erzählt seine Mutter.

Mutter von Fabian: Relativ bald haben wir es gemerkt. Der Fabian konnte das Kinds-Pech nicht von selber absetzen. Und dann ging es eben los, dass man von Arzt zu Arzt ist. Der Kinderarzt hat weitergeschickt zur Untersuchung und es hat Wochen gedauert, bis wir dann die Vermutung hatten, dass es der Morbus Hirschsprung ist. Und es wurde mit zehn Wochen operiert das erste Mal. Es wurden ein paar Zentimeter Darm entfernt und dann haben wir gedacht, dass es dann gut ist.

Stefanie Seltmann: Fabian hatte einerseits Glück, dass seine Krankheit früh erkannt wurde, denn die Hirschsprungkrankheit ist sehr selten. In Deutschland werden nur ungefähr 120 bis 150 Kinder jedes Jahr mit dieser Diagnose geboren. Und so muss erst einmal überprüft werden, ob die Verstopfung nicht eine andere Ursache hat, erklärt Dr. Romero.

Philipp Romero: Und wenn dort nichts auffällig ist, dann kann man diesen Morbus Hirschsprung ausschließen. Das heißt, man muss eine Diagnostik machen. Und dies ist in dem Fall nur möglich durch eine Probeentnahme vom Darm und eine histologische Aufarbeitung. Das heißt, eine feingewebliche Untersuchung, die spezielle Techniken benötigt, um eben diesen Pathomechanismus, dass die Ganglienzellen, die Nervenfasern fehlen, dann auch zu detektieren.

Stefanie Seltmann: Andererseits hatte Fabian aber auch Pech, denn bei der ersten Operation im Alter von wenigen Wochen war eben nicht der gesamte kranke Darm entfernt worden. Es war immer noch ein Stück Darm ohne Nervenfasern vorhanden, was nach kurzer Zeit wieder zu Problemen führte, erzählt die Mutter.

Mutter von Fabian: Es ist weiterhin ein massiv geblähter Bauch vorhanden gewesen. Es war sehr schwer, Stuhlgang abzusetzen. Wir haben viel gestritten Zuhause. Das war immer „der Fabi möchte nicht auf Toilette“. Wir haben gesagt: „du musst aber gehen“. Und das ging über Jahre. Also kann man sich vorstellen, wie die Lebensqualität auch gelitten hat.

Stefanie Seltmann: Wenn Fabian zum Kindergeburtstag eingeladen war, mussten die Gasteltern informiert werden, dass Fabian nicht alles essen darf, etwa keinesfalls Hefekuchen – der bläht. Bei Familienausflügen musste immer darauf geachtet werden, dass Fabian vorher auf der Toilette war.

Mutter von Fabian: Es ist tatsächlich eine Krankheit, die die komplette Familie betrifft. Die Lebensqualität leidet wirklich sehr. Und wir haben das Riesenglück, dass der Fabi einen ganz tollen großen Bruder hat, der mit dem Fabi stundenlang im Bad gespielt hat. Fabi saß am Klo und dann haben wir so ein Holzbänkchen und der große Bruder saß davor. Dann haben halt die Beiden Lego auf der Toilette gespielt. Er hat vorgelesen auf Toilette. Also, er hat sich unwahrscheinlich bemüht, dass der Fabi auch einfach auf dem Klo bleibt, weil da wollte er ja nicht sein.

Stefanie Seltmann: Der Morbus Hirschsprung ist eine genetische Krankheit. Allerdings ist nicht ein einziges Gen dafür verantwortlich, sondern sehr, sehr viele, erklärt Doktor Philipp Romero.

Philipp Romero: Man kennt mittlerweile circa 200 Gene, die daran beteiligt sein sollten, wobei aber keine Kombination der Gene bei einem Patienten dem anderen entspricht. Und wir haben sogar Fälle, wo wir eineiige Zwillingskinder haben, wo das eine Kind Morbus Hirschsprung entwickelt hat und das andere Zwillingskind keinen Hirschsprung entwickelt hat. Das heißt, es gibt nicht nur ein verändertes Erbmuster, sondern es gibt auch eine unterschiedliche Penetranz, so nennen das die Genetiker. Und das macht das genetisch sehr komplex und aufwendig.

Stefanie Seltmann: Meist sind sowohl Mutter als auch Vater Träger von einigen Gen-Varianten. Doch erst die Kombination aus beiden führt dann im Kind zum Ausbruch der Krankheit. Was genau passiert während der Entwicklung des Embryos, auch das Wissen die Genetiker noch nicht genau.

Philipp Romero: Wenn diese Nervenfasern vom Mundbereich Richtung Anus wandern, auf diesem Weg passiert etwas: dass sie entweder in der Wanderung nicht unten ankommen oder unten ankommen und sich nicht richtig differenzieren oder sich differenziert haben und dann kaputt gehen. Und das sind alles die drei Theorien, die diskutiert werden in der Wissenschaft.

Stefanie Seltmann: Für Fabian wurde es mit der Zeit immer schwieriger, den Stuhlgang abzusetzen. Manchmal war die Verstopfung so hartnäckig, dass nur die Fahrt ins Krankenhaus blieb, wo mit ärztlicher Hilfe abgeführt wurde.

Mutter von Fabian: Ja, und dann haben wir irgendwann nicht mehr weitergewusst. Wir waren wieder beim Kinderarzt und dann wurde uns Heidelberg empfohlen. Und wir waren beim Doktor Romero in der Sprechstunde. Und dann wurde alles nochmal untersucht. Noch mal eine Probeentnahme durchgeführt vom Darm und daraufhin hat man dann festgestellt, dass leider immer noch nicht genug Ganglienzellen vorhanden sind im unteren Teil vom Darm. Und dass eigentlich der Fabi seit acht Jahren mit diesem Morbus Hirschsprung nach wie vor gelebt hat, mehr oder weniger ausgeprägt.

Stefanie Seltmann: Die Diagnose war eindeutig. Noch immer war ein Teil von Fabians Darm ohne Nervenfasern. Deshalb entschloss sich Doktor Romero am Universitätsklinikum Heidelberg zur erneuten Operation.

Philipp Romero: Die Operation dauert im Schnitt zwischen zwei und drei Stunden, je nachdem, wie langstreckig diese Aganglionose, der erkrankte Teil, ist. Man operiert bei dieser Durchzugs-Operation so lange, bis man im gesunden Bereich ist. Das sieht man Makroskopisch auch während der Operation. Und man hat ja auch schon vorher diagnostiziert, wo man sozusagen die Übergangszone erwartet. Man nimmt während der Operation eine kleine Probe, die man dem Pathologen als Schnellschnitt schickt, der einem nach 20 Minuten die Sicherheit gibt, zu sagen, hier sind sehr gute Ganglienzellen in der Darmwand nachzuweisen, so dass man hier im Gesunden ist.

Stefanie Seltmann: Nach der Operation ging es Fabian für ein paar Tage nicht besonders gut. Die Operationswunde war geschwollen, so dass das auf die Toilette gehen noch schwieriger und schmerzhafter war als zuvor. Doch am vierten Tag ging es plötzlich gut, erzählt die Mutter von Fabian und hofft nun natürlich, dass es auch dabei bleibt.

Mutter von Fabian: Ja, die Hoffnung haben wir und im Moment fühlt sich das auch sehr berechtigt an, weil der Bauch ein ganz anderer ist. Der Bauch ist toll seit der Operation. Es fühlt sich anders an, es schaut anders aus. Also es ist gut. Von dem her sind wir sehr, sehr guter Dinge, dass es jetzt dann gut ist und gut bleibt.

Stefanie Seltmann: Dennoch wird die Familie zumindest in der ersten Zeit noch häufiger nach Heidelberg kommen müssen zur klinischen Kontrolle, sagt Doktor Romero.

Philipp Romero: Es gibt eine enge strukturierter Nachbetreuung bei uns in der Klinik ambulant. Das heißt, wir sehen die Kinder am Anfang engmaschig. Das heißt im zwei bis vier Wochen-Rhythmus für die ersten paar Wochen; ungefähr bis zum dritten Monat nach der Operation. Danach werden die Intervalle länger. Das heißt, wir haben dann ein, zwei oder drei Monate Intervall, dann Halbjahres-Intervall und ab dem ersten Jahr nach der Operation sehen wir die Patienten einmal im Jahr. Wobei, wenn Probleme auftreten, die Familien jederzeit im Krankenhaus, wo sie betreut wurden, dann eben auch eine Anlaufstelle haben.

Stefanie Seltmann: Dass die Familien eine Anlaufstelle haben, an die sie sich wenden können, ist gerade für Betroffene von seltenen Erkrankungen ungeheuer wichtig. Denn nur in spezialisierten Zentren ist ein Team vorhanden, das mit den besonderen Herausforderungen umgehen kann und die Beschwerden überhaupt als ernstzunehmende Krankheit erkennt.

Mutter von Fabian: Also das ist natürlich nur meine Erfahrung, aber ich habe festgestellt, dass man leider nicht von allen ernst genommen wird als Mutter, dass man oft so ein bisschen belächelt wird, dass halt jedes Kind anders ist und dass es bei manchen Babys halt länger dauert bis sie sich einpendeln. Und das ist schon echt schwierig, wenn man da nicht wirklich hinterher ist und kämpft. Das ist schon mal ein großes Hindernis. Ansonsten wäre es schon schön, wenn gerade auch solche Erkrankungen wie Hirschsprung bekannter wären, weil die Ärzte vielleicht eher dran denken und damit auch den Eltern viel Nerven einfach ersparen, ja, viel Rennerei ersparen. Und man hat wirklich genug zu tun, wenn man sich erstens Sorgen macht und zweitens mit dem Kind völlig überfordert ist, weil man nicht weiß, wie man ihm helfen kann. Und wenn man dann eben auch noch wirklich alles aktiv einfordern muss, aktiv erfragen muss, dann ist es relativ anstrengend.

Stefanie Seltmann: Auch Doktor Romero stellt immer wieder fest, dass die Familien lange suchen mussten, bis jemand auf die Idee kam, sie in ein Zentrum für seltene Erkrankungen zu schicken. In diesen Zentren arbeiten verschiedene Ärzte und Wissenschaftler zusammen. Und so besteht die Möglichkeit, nach verschiedenen Krankheiten zu fahnden und damit auch die Diagnostik und Behandlung der seltenen Krankheiten zu verbessern. Er persönlich konzentriert sich dabei auf die Patientinnen und Patienten mit der Hirschsprungkrankheit. Sein Ziel ist es, den Zusammenhang zwischen den veränderten Genen und der individuellen Ausprägung der Krankheit besser zu verstehen.

Philipp Romero: Das ist sozusagen das mittelfristige Ziel der Forschung, Gruppen zu finden, von denen man weiß, auf die muss ich besonders gut aufpassen. Die werden besonders große Probleme mit der Darmperistaltik oder mit der Stuhlpassage haben nach der Operation, weil sie das spezielle genetische Muster zeigen dafür. Das zweite wäre, dass man vielleicht einen genetischen Test macht ohne Narkose und Darmprobe. Das heißt, in der Diagnostik eventuell weiterkommt und das dritte große Ziel wäre natürlich zu gucken, wenn man den Pathomechanismus erkennt: Gibt es andere Therapieansätze als das Operative?

Stefanie Seltmann: Fabian jedenfalls freut sich schon darauf bald das Krankenhaus verlassen zu dürfen. Und er freut sich sogar schon wieder auf die Schule.

Fabian: Ich freue mich dann auch wieder in der Schule zu sein. Also, der Doktor Romero hat gesagt, ungefähr am Donnerstag gehen wir dann. Aber dann sind ja erst mal wieder Ferien. Und dann kann ich erst wieder in die Schule. Aber es würden sich viele wieder freuen, dass ich wieder da bin.

Stefanie Seltmann: Und damit sind wir am Ende dieser Ausgabe des Campus Report angelangt. Tschüss und bis zum nächsten Mal, sagt Stefanie Seltmann.