Die Diagnose ist ein Schock für die Betroffenen: Wer chronische lymphatische Leukämie (CLL) hat, leidet an einer bösartigen Erkrankung des lymphatischen Systems. Doch dank moderner Medikamente und Therapien hat die CLL viel von ihrem Schrecken verloren. Volker Kaul galt als austherapiert und konnte doch noch gewinnen. Möglich machte dies ein Durchbruch in der Krebsforschung – die innovative CAR-T-Zelltherapie. Der 64-Jährige erhielt die Behandlung am Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD). Mit großem Erfolg: Heute sind keine Krebszellen mehr nachweisbar.

Prof. Dr. Peter Dreger, behandelnder Arzt von Volker Kaul, bespricht mit seinem Patienten die weitere Behandlungsplanung.

Als seine Lymphknoten dick werden und nicht wieder abschwellen, denkt Volker Kaul zunächst an eine verschleppte Erkältung und geht zur Hals-Nasen-Ohren-Ärztin. Doch die reagiert besorgt: „Sie meinte, man müsse die Lymphknoten unbedingt kontrollieren“, erinnert sich der heute 64-Jährige aus Nauheim bei Rüsselsheim. Noch in der Praxis entnimmt man ihm eine Gewebeprobe und schickt sie ins Labor. Das Ergebnis der Biopsie sowie eine CT-Untersuchung lassen einen niederschmetternden Verdacht aufkommen: Volker Kaul könnte an chronischer lymphatischer Leukämie (CLL) leiden, einer bösartigen Erkrankung des Lymphsystems, die zu einer unnatürlichen Vermehrung der weißen Blutkörperchen, der sogenannten Leukozyten, führt. Es ist der häufigste Blutkrebs im Erwachsenenalter.

Nachdem er die schlechten Nachrichten erhalten hat, fährt Volker Kaul nach Hause. „Meine Frau und ich haben uns an unsere Computer gesetzt und alles über CLL gegoogelt“, erzählt Kaul. Eine endgültige Diagnose hat er zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht erhalten – erst muss er noch einen Termin für eine Knochenmarkentnahme aus dem Beckenkamm abwarten. Wochenlang durchforsten Kaul und seine Frau das Internet und machen sich Sorgen. „Das war keine schöne Zeit.“ Das Ergebnis der Knochenmarkentnahme bestätigt den Verdacht: Volker Kaul ist an chronischer lymphatischer Leukämie erkrankt.

Alle drei Monate kommt Volker Kaul zur Kontrolluntersuchung nach Heidelberg.

Ein langer Weg

Der Tag der Diagnose liegt inzwischen 13 Jahre zurück, und Volker Kaul hat unzählige Behandlungen hinter sich. Zunächst bekommt der Familienvater 2013 eine sechsmonatige Chemotherapie. Doch diese ist nicht sonderlich erfolgreich. Die Zahl der Leukozyten sinkt zwar, doch Kauls Lymphknoten bleiben weiter geschwollen.

Sein Arzt schickt ihn zu Professor Dr. Peter Dreger, der am UKHD als stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Rheumatologie Leukämiepatientinnen und -patienten behandelt. Prof. Dreger empfiehlt seinem neuen Patienten das neuartige Medikament Ibrutinib. „Das hat eine Zeitlang gut funktioniert“, erzählt Kaul. Doch nach einigen Jahren wirken die Tabletten nicht mehr, und die Zahl der Leukozyten in seinem Blut steigt wieder an.

2017 verschreibt ihm Prof. Dreger ein neues Präparat namens Venetoclax. Auch dieses Medikament hilft, doch nach drei Jahren ist erneut Schluss, denn Kauls Krebszellen sprechen nicht mehr auf den Wirkstoff an. „Leider kann es vorkommen, dass Krebszellen Resistenzen auch gegen moderne Medikamente entwickeln“, sagt Prof. Dreger. Und so beginnt die Suche nach einem Stammzellenspender für Volker Kaul. Doch weltweit gibt es niemanden, der zu ihm passt. „Ein seltener Fall“, sagt der Mediziner. Und Volker Kaul hat zumindest seinen Humor nicht verloren: „Es ist zwar gut, wenn man einzigartig ist, aber so einzigartig möchte man dann doch nicht sein.“

Prof. Dr. Carsten Müller-Tidow (links), Leiter der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Rheumatologie und Prof. Dr. Michael Schmitt, Leiter des GMP-Labors der Sektion Stammzelltransplantation im Reinraumlabor.

Lichtblick CAR-T-Zelltherapie

Da Volker Kaul an einer besonders aggressiven Form der chronischen lymphatischen Leukämie leidet und sämtliche Behandlungsoptionen ausgeschöpft sind, nimmt Prof. Dreger ihn Anfang 2021 in eine klinische Studie seines Kollegen Prof. Dr. Michael Schmitt an der Medizinischen Klinik V auf. In dieser werden Patientinnen und Patienten mit chronischer oder akuter lymphatischer Leukämie sowie Patientinnen und Patienten mit Lymphdrüsenkrebs, denen konventionelle Behandlungen nicht mehr helfen, mit der neuen sogenannten CAR-T-Zelltherapie behandelt. Diese wurde in den USA entwickelt.

Normalerweise können die T-Zellen des Immunsystems krankmachende Zellen im Körper identifizieren und vernichten. Doch manche Krebszellen tarnen sich so, dass sie nicht erkannt werden. Bei der CAR-T-Zelltherapie filtert man die T-Zellen aus dem Blut des Patienten und stattet sie im Labor mithilfe eines gentechnischen Eingriffs mit einer Art Rezeptor aus. Die T-Zellen werden zu CAR-T-Zellen – CAR steht für Chimeric-Antigen-Receptor. Dieser neue Rezeptor ist fest in der Zelle verankert und spürt zielgenau Krebszellen auf.

„Im Grunde justiert man das Immunsystem dort nach, wo es Lücken hatte, durch die der Krebs schlüpfen konnte“

Professor Dr. Peter Dreger, stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Rheumatologie

„Im Grunde justiert man das Immunsystem dort nach, wo es Lücken hatte, durch die der Krebs schlüpfen konnte“, sagt Prof. Dreger. Die Medizinische Klinik V verfügt über ein Labor, in dem die Mitarbeitenden unter Leitung von Prof. Michael Schmitt CAR-T-Zellen selbst herstellen. Diese Expertise haben nur sehr wenige Kliniken in Deutschland. Es ist jedoch auch möglich, CAR-T-Zellen zu verwenden, die von Pharmafirmen angeboten werden, jedoch ist keines dieser kommerziellen Produkte für die Behandlung der CLL zugelassen.

Nachdem der Patient zur Vorbereitung eine milde immunsuppressive Chemotherapie bekommen hat, führt man die neuen CAR-T-Zellen als Infusion zurück in den Körper, wo sie sich ausbreiten und ihre Arbeit aufnehmen. „Dazu reicht eine Einmalgabe“, sagt Prof. Dreger.

Im Labor werden die T-Zellen der Patienten in CAR-T-Zellen umgewandelt und vermehrt.

Neustart fürs Immunsystem

„Die Verabreichung der Infusion hat nur rund 15 Minuten gedauert“, erinnert sich Volker Kaul. Insgesamt muss er drei Wochen im Krankenhaus bleiben. In seinem Einzelzimmer darf er keinen Besuch empfangen, zu groß ist die Gefahr, dass er sich in seinem vulnerablen Zustand mit Corona oder einem anderen Virus infiziert. „Die Schwächung des Immunsystems ist nicht zu unterschätzen“, sagt Prof. Peter Dreger. Deswegen müsse man die Patienten präventiv mit Antibiotika behandeln und überwachen, um etwaige Nebenwirkungen wie Fieber oder Schüttelfrost direkt aufzufangen. „Es gibt auch manchmal neurologische Nebenwirkungen, die mit einer Entzündung einhergehen und vorübergehende Störungen der Hirnaktivität auslösen können.“ Das Risiko sei mit dem Heidelberger CAR-T-Produkt jedoch gering.

Volker Kaul verträgt die CAR-T-Zelltherapie gut: „Ich hatte lediglich einmal ein bisschen erhöhte Temperatur.“ Und das Wichtigste: Die Therapie wirkt. „Meine Blutwerte waren bei der Entlassung bereits sehr gut.“

Im ersten Jahr nach der CAR-T-Zelltherapie kommt Volker Kaul monatlich zur Blutkontrolle nach Heidelberg, inzwischen nur noch alle drei Monate. In seinem Blut sind keine Krebszellen mehr nachweisbar. Volker Kaul ist in Remission. Weitere Nachbehandlungen sind nicht nötig. Die Prognose seines Arztes ist positiv: „Herr Kaul ist seit zwei Jahren krankheitsfrei. Ich bin sehr zuversichtlich, dass der Therapieerfolg anhält.“

Der innovative Ansatz

1. Im Rahmen der Leukaphrese werden T-Zellen aus dem Blut des Patienten gewonnen.

2. Die T-Zellen werden mit dem Bauplan für einen künstlichen Rezeptor (CAR) ausgestattet.

3. Die neuartige T-Zelle bildet einen Rezeptor (CAR) aus, der Krebszellen erkennen kann.

4. Nun werden Millionen von identischen CAR-T-Zellen gezüchtet.

5. Der Patient erhält die aktivierten CAR-T-Zellen in sein Blutsystem zurück.

6. Die CAR-T-Zellen spüren jetzt die Krebszellen im Körper auf und bekämpfen sie.

Gute Heilungschancen

In Heidelberg haben bereits 200 Patienten CAR-T-Zellen erhalten, davon über 50 das hauseigene Produkt. „Je nach Art der Erkrankung können bis zu 40 Prozent der Patienten geheilt werden“, berichtet Prof. Dreger. Da die Therapie teuer und aufwendig ist, wird sie derzeit nur bei Patientinnen und Patienten angewandt, die auf andere Therapien nicht oder nicht gut ansprechen. „Man braucht eine Infrastruktur und hochspezialisiertes Personal“, berichtet Prof. Dreger. „Außerdem müssen Ärztinnen und Ärzte verschiedener medizinischer Disziplinen in der Nähe sein, um mögliche Nebenwirkungen einzudämmen.“

Und was ist mit Brustkrebspatientinnen oder Menschen mit anderen Krebsarten? Können auch sie von der CAR-T-Zelltherapie profitieren? „Leider noch nicht“, bedauert Prof. Dreger. Denn solide Tumoren seien komplizierter als hämatologische: „Ihre genetische Heterogenität ist viel ausgeprägter.“

Volker Kaul ist überglücklich, dass er durch die Therapie Lebenszeit und -qualität gewonnen hat: „Ich kann ein ganz normales Leben führen.“ Mittlerweile ist der gelernte Elektroniker in Rente und genießt es, mit der Familie in seinem großen Garten zu grillen – vor allem selbstgemachte Wurst, denn er ist Hobbymetzger. Außerdem widmet er sich zusammen mit seiner Frau einem neuen Projekt – der Erziehung des Jack Russell Terriers Max. Wenn Kaul von ihm erzählt, leuchten seine Augen. Der junge Hund braucht viel Aufmerksamkeit. Kaul hat nun Zeit, sie ihm zu geben.

UKHD bundesweit Vorreiter in der Krebsbehandlung

Pionier und Wegweiser in der Diagnostik und Therapie von Krebserkrankungen ist das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg.Es vereint die exzellente Patientenversorgung aller onkologischen Bereiche des Comprehensive Cancer Center (CCC) mit innovativer Forschung. Die enge Zusammenarbeit mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) gewährleistet, dass neue Therapieansätze entwickelt und rasch in die Praxis umgesetzt werden.

Seit 2017 gibt es ein entsprechendes Pendant auch für an Krebs erkrankte Kinder: Im Hopp-Kindertumorzentrum (KiTZ) Heidelberg arbeiten Ärzte, Wissenschaftler, Pflegepersonal und weitere Fachkräfte an neuen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten.

Im November 2009 wurde zudem die europaweit einmalige Anlage, das Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum (HIT) in Betrieb genommen. Das HIT ist die europaweit erste Therapie-Anlage, die sowohl mit Protonen als auch mit Schwerionen arbeitet. Kinder und Patienten mit bestimmten Tumoren der Prostata, der Lunge und der Leber können hier effektiv behandelt werden.

Im April 2023 ist der Startschuss für die Aufbauphase eines Zentrums für Gen- und Zelltherapie gefallen. Im neugegründeten Zentrum schließen sich Forschende sowie Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen zusammen, um an praxisrelevanten Fragen zu arbeiten und gen- und zelltherapeutische Behandlungsmethoden schnellstmöglich in die klinische Anwendung zu bringen.